Einmal den Text überflogen und dein Kind kann alle Fragen dazu beantworten oder eine kurze Zusammenfassung schreiben? Herzlichen Glückwunsch, dann brauchst du hier nicht weiterlesen 😉 Bei den meisten Kindern, Jugendlichen (und auch Erwachsenen!) ist dies aber eben nicht der Fall.
Wie Leseverstehen mit vier einfachen Lesestrategien verbessert werden kann, darum geht es heute.
Das Lernen aus Texten macht über 80 % des angeeigneten Schulwissens aus.
Lesen ist also der Lernweg für schulischen Erfolg. Mittlerweile ist schulische Leseförderung Aufgabe aller Unterrichtsfächer, aller Klassenstufen und aller Schulformen.
Doch was brauchen die Kinder, denen die schulische Förderung nicht reicht, um Texte adäquat zu verstehen?
Lesestrategien!
Lesestrategien sind eine Art der Lernstrategien. In der Literatur werden mehrere Hundert einzelner Strategien erörtert. Strategien sind in diesem Fall absichtsvolle Handlungen, die das Leseverstehen ermöglichen und unterstützen, also Handlungspläne, mentale Aktivitäten, um einen Textinhalt zu verstehen.
Die verschiedenen Arten von Lesestrategien
Lesestrategien sind vielgestaltig und werden in verschiedene Formen unterteilt:
(Achtung, jetzt wird ein bisschen wissenschaftlicher 😅)
1) Kognitive Strategien
a) Organisierende (Verdichtung des Inhalts)
z. B. Wichtiges zu markieren, eine Zusammenfassung zu schreiben, Visualisieren
b) Elaborierende (über den Inhalt hinaus)
z. B. Vorwissen aktivieren, vorab Gedanken zur Überschrift machen, Überschriften für Absätze finden
2) Metakognitive Strategien
z. B. zu bemerken, wenn man beim Lesen nicht mehr der Sache folgen kann, einen Leseplan erstellen, Fragen zum Text finden und beantworten, Überwachung des Verständnisses
3) Verhaltensbezogene Stützstrategien
z. B. die Gestaltung des Arbeitsplatzes
Lesestrategien werden also
- zur Problemlösung im Leseprozess aktiviert (Ich verstehe den Text nach einmal durchlesen nicht, also muss ich etwas ändern.),
- unterteilen den Leseprozess in Etappen (Vorwissen anregen, lesen, markieren, zusammenfassen …) und
- können flexibel genutzt werden (Ein kurzer Text = weniger markieren, evtl. muss ich gar nichts Unklares nachschlagen …).
Wichtig ist, dass sie aktiv erworben, verinnerlicht und dann gezielt ausgewählt werden müssen und – vor allem – grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten Voraussetzung sind. Das bedeutet, es dürfen keine größeren Schwierigkeiten in Lesegeschwindigkeit oder Lesegenauigkeit vorliegen – dann gilt es, die Förderung an anderer Stelle anzusetzen.
Um einen Textinhalt zu verstehen und zu behalten, muss er also gründlich bearbeitet werden. Für Schüler*innen in meiner Lerntherapiepraxis hat sich die Vermittlung von folgenden vier Strategien als hilfreich erwiesen:
Meine vier Lieblingsstrategien
1) Vorwissen aktivieren
Sinnzusammenhänge in Texten können Leser*innen entweder auf Wissensbasis oder Textbasis herstellen, also entweder durch das Aktivieren von Vorwissen oder aus Hinweisen aus dem Text. Im Idealfall fließt beides zusammen.
Für diesen Leselernprozess rege ich die Schüler*innen an, Vorwissen in Gelesenes einzubringen, beispielsweise, wenn sie sich direkt nach dem Lesen der Überschrift vor dem Weiterlesen Gedanken zum Text und dessen Inhalt machen – und dazu, was sie über das Thema bereits wissen.
Ein Kind nähert sich einem Text mit einer bestimmten Erwartungshaltung, die es aus seinen Erfahrungen und Wissen speist. So kann es sich überhaupt erst auf den Text einlassen und Leseverständnis erlangen, da der Textinhalt immer wieder mit den Vorvermutungen und dem eigenen Wissen abgeglichen wird.
Hierzu wird beim Üben zunächst die Überschrift eines Textes gelesen und dann gemeinsam mit dem Kind die ersten Vorüberlegungen gestellt, z. B.:
„Wenn du die Überschrift liest, welche Textsorte wird es sein?“
„Woran erkennst du, dass das ein Gedicht/ Sachtext/ Märchen/ eine Erzählung ist?“
„Was erwartest du zu dieser Überschrift?“
„Was könnte uns der Text über das Mammut (Beispiel) erzählen?“
„Was weißt du denn schon über Mammuts?“
2) Markieren wichtiger Textstellen
Das Unterstreichen oder Hervorheben mit Leuchtmarkern wichtiger Wörter oder Sätze üben.
Wird hier bemerkt, dass das Kind viel zu viel markiert, beispielsweise mit einem gelben Textmarker beginnen und dann diese Textpassagen noch einmal durchgehen lassen und davon die wichtigsten Stellen erneut, in einer anderen Farbe markieren lassen.
Sobald der*die Schüler*in sich einen Überblick verschafft hat und ungefähr weiß, wo die wesentlichen Inhalte und Kerngedanken stehen, wird die Gefahr reduziert, zu viel zu kennzeichnen.
3) Unklares nachschlagen (bzw. nachfragen)
Arbeitet das Kind bereits mit einem Grundschullexikon, kann diese Arbeit hier aufgegriffen werden und das Kind kann trainieren, Unklares nachzuschlagen, um dann den Text besser zu verstehen. Ist die Arbeit mit einem Lexikon noch nicht klar, soll das Kind ermuntert werden, den*die Therapeut*in bei unklaren Stellen oder Wörtern im Text zu fragen, im Unterricht natürlich die Lehrkraft, zuhause beispielsweise die Eltern.
4) Zusammenfassen
Nun wird geübt, den Text einmal mit eigenen Worten wiederzugeben oder wichtigste Stichworte zum Gelesenen aufzuschreiben. Hier kann auch gut eine Mindmap zum Einsatz kommen.
Wie viele Trainingsprogramme verwende ich beim Vermitteln der Strategien die Methode des Modelllernens, speziell die verbale Selbstinstruktion. Bei der verbalen Selbstinstruktion ist der*die Trainer*in das Modell und überlegt dabei laut. Wie wird an die Aufgabe herangegangen? Welche Strategie nutze ich? Anschließend wird auch der Erfolg des Einsatzes der Methode verbalisiert, inklusive eventuell notwendiger Korrekturen/ Anpassungen der Methode. Im nächsten Schritt übernimmt das Kind die Rolle und teilt seine Gedanken und Handlungsschritte laut denkend mit. Sobald die Anwendung klar ist, wird auf leises Sprechen bzw. inneres Sprechen übergegangen.
Im Prinzip des Modelllernens werden die Strategien gemeinsam mit Kind und mir erarbeitet. Dafür kann ich einen Teil des Textes laut vorlesen und zeigen, was ich z. B. Wichtiges markieren würde. Zu der Strategie „Zusammenfassen“ kann ein Text aus einer vorhergehenden Stunde durch den*die Therapeut*in zusammengefasst werden, um dem Kind zu zeigen, wie eine Zusammenfassung sein kann. Bei „Vorwissen aktivieren“ kann dem Kind zu einer eigenen Erfahrung zum Textthema berichtet werden.
Wichtig ist hierbei das gemeinsame Erlernen und Erleben der Strategien – ich mache vor, das Kind macht nach und mit. So ermöglicht Modelllernen den Kindern, ihr Verhalten anzupassen, um Fehler zu verringern.
So, das war jetzt mein Therapeutinalltag 😉
Wenn du mit deinem Kind diese Lesestrategien einüben möchtest –
dann vermeide diese vier Dinge:
Vermeide unbedingt diese Fehler
1) An Lesestrategien arbeiten, wenn es noch an der Lesegenauigkeit oder Lesegeschwindigkeit hapert.
2) Alle Strategien auf einmal erarbeiten. Lieber eine nach der anderen, sodass dein Kind Zeit zum Verfestigen der Lesestrategie hat. Nur so wird das Vorgehen zum Standard deines Kindes/ Jugendlichen bei der Erarbeitung von Texten.
3) Zu wenig einüben. Die Lesestrategien müssen immer wieder genutzt werden, um automatisiert genutzt werden zu können.
4) Zu viel Druck. Lesenlernen und Leseverstehen ist ein Prozess – manchmal verläuft er schneller, mal langsamer. Ein Kind braucht mehr Wiederholungen, das andere weniger. Am Ball bleiben und sich nicht entmutigen lassen – ihr schafft das!
Viel Erfolg beim Ausprobieren der Lesestrategien – und viel Spaß beim Lesen!
Lass mich gerne wissen, ob es dir und deinem Kind weitergeholfen hat:
info@lerntherapie-lauterbach.de
PS: Kennst du schon meinen Lerntherapie Letter? Hier geht’s lang!
Quellen/ zum Nachlesen:
Gold, A. (2018). Lesen kann man lernen – Wie man die Lesekompetenz fördern kann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Keller, G. (2015). Lerncoaching in der Schule: Praxishilfen für Lehrkräfte. Göttingen: Hogrefe.
Philipp, M. (2015). Lesestrategien. Bedeutung, Formen und Vermittlung. Weinheim: Beltz Juventa.
Rosebrock, C.; Nix, D. (2014): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Batmannsweiler: Schneider Verlag.
Scheerer-Neumann, G. (2018). Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie: Grundlagen, Diagnostik und Förderung (2., aktualisierte Auflage.). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
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